top of page

Achtsamkeit und Narzissmus - Eine philosophische Perspektive auf Zeiten geopolitischer Hybris


Vom Fluch unstillbarer Selbstliebe


Als Ovid im ersten Jahrhundert nach Christus von einem seltsamen, jungen Mann erzählte, war ihm die kulturelle Tragweite dieses Mythos vermutlich nicht bewusst. Narziss hieß dieser junge Mann, der eine floristische Metamorphose an sich selbst erfuhr. Als der alle Verehrerinnen und Verehrer abwies, wandte sich einer der Verschmähten an die Götter. Das Flehen wurde gehört und Narziss aus göttlichen Gefilden mit unstillbarer Selbstliebe bestraft. Da verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser, starb darüber und verwandelte sich in ein Pflänzchen mit seinem Namen.


Aller vegetativen Niedlichkeit zum Trotz befasst sich zweitausend Jahre später die moderne Psychologie mit dem Phänomen Narzissmus als schwerwiegende, oft auch verdeckte Persönlichkeitsstörung. Die WHO beschreibt pathologische Narzissten als stark eingenommen von Fantasien der Macht, des Erfolgs, der eigenen, grandiosen Wichtigkeit. Neid kann dann eine Rolle spielen, wenn die narzisstische Hybris durch Realitäten anderer kontrastiert wird. Und ein Mangel an Empathie drückt sich dann zum Beispiel darin aus, dass auf Bedürfnisse oder Kritik anderer destruktive Attacken folgen können.


'Gaslighting' und die Selbstverständlichkeit pathologischer Narzissten


Die Gefährlichkeit, die von pathologischen Narzissten ausgeht, hat hauptsächlich mit zwei Aspekten ihres Verhaltens zu tun. Zum einen wenden solche Menschen eine Form psychischer Gewalt an, die man im Fachjargon 'gaslighting' nennt. Damit soll das Realitäts- und Selbstbewusstsein ihrer Opfer desorientiert und letztlich zerstört werden, um ihr krankhaftes Selbstbild aufrecht erhalten zu können. Zum Beispiel werden Gefühle und Wahrnehmungen von Opfern umgedeutet oder in ihrer Angemessenheit untergraben. Das ganze Spektrum manipulativer Techniken findet hier Anwendung.


Zum anderen leben pathologische Narzissten in einer kognitiven Selbstverständlichkeit, die keine rationale Einsicht in eigene Handlungsmotive sowie deren Verantwortlichkeiten zulässt. Es handelt sich dabei nicht um bewusst gewähltes Ausblenden derselben, sondern verstellt schlicht die eigene Hybris eine Anerkennung oder Integration der Bedürfnisse anderer. Hinsichtlich der Ursachen einer solchen Persönlichkeitsstörung ist man sich heute überwiegend einig, dass wenn ein Kind von den Eltern daran gehindert wird, aus einer Phase des kindlichen Narzissmus herauszuwachsen, es dauerhaft narzisstisch in seiner Persönlichkeit strukturiert bleibt.


Die ontologische Hybris politischer Narzissten


So weit die vereinfachte Psychologie der Lehrbücher. Ein philosophischer Blick auf dieses Phänomen trägt noch eine weitere Idee bei, die ontologisch fundiert ist, und zu einer möglichen Antwort auf narzisstisches Verhalten führt. Denn bei aller stringenten, leicht nachvollziehbaren Beschreibung solch einer Psychopathologie, zeitigt die extremistische Drastik der narzisstischen, hoch manipulativen Selbstverständlichkeit im aktuellen, geopolitischen Geschehen eine humanitäre Erschütterung, die ihresgleichen sucht. Während im Angesicht psychischer Krankheiten sicherlich psychiatrisch professionelle, wertfreie Neutralität geboten ist, drängen atomare Drohgebärden politischer Narzissten aktuell die Weltgemeinschaft zu einer geschlossenen Reaktion. 'Ihr habt mich dazu gebracht, dass ich Krieg führe.'


Narzissmus lässt sich also philosophisch in einen Identitätsbegriff fassen, der nach einer äußerst strikten Trennung von Subjekt und Objekt verlangt. Das Wollen des eigenen Selbst erhält zum einen immer den Vorrang vor jedweder Verfasstheit eines Anderen. Die Legitimierung der eigenen Identität des Zorns erfolgt zum anderen über die Demontage und mündet schliesslich in die Destruktion des jeweils Anderen. Eine possessive Destruktion eines Anderen, der vormals als 'Bruder' benannt wurde. Zudem wird sogar eine Zerstörung katastrophalen Ausmaßes mit imaginierten Schuldzuweisungen an Andere legitimiert. Das Monster sind die Anderen.


Achtsamkeit ist der notwendige, globalgesellschaftliche Strukturbegriff einer Haltung, die eine erlebte, positive Einheit von mir und sogenannten Anderen zum Ausdruck bringt.


Achtsamkeit in einem buddhistischen Kontext ist ein Konzept, das eine gegenteilige Ontologie zu Grunde legt. Hier wird durch Bewusstseinstechniken versucht, Einsicht in die Nicht-Dualität von Erkennendem und Erkanntem zu erlangen. Das berührt nicht nur die Frage, was man wissen kann, sondern profiliert unbedingt die Struktur der Persönlichkeit – Das Wollen des eigenen Selbst wird als untrennbar mit einem Gegenüber erlebt und verstanden. Ethische Vorgaben werden demnach deshalb quasi obsolet, weil diese strukturontologische Abhängigkeit von Subjekt und Objekt einen intrinsischen Wert des Anderen impliziert, den zu übergehen/demontieren/destruieren sich naturgemäß schlicht nicht ergibt.


Eine alternativlose Antwort auf jeden Narzissmus


Da ein Narzisst die Fähigkeit zur Einsicht nicht besitzt – interessanterweise finden sich meist die Opfer in psychotherapeutische Behandlung ein, nicht die ursprünglich Behandlungsbedürftigen – ist ab einem gewissen Punkt jeder Gesprächsversuch erfolglos, besonders, wenn dieser Punkt die Aufdeckung vorheriger Lügen des Narzissten bereits mit einschliesst. Darüberhinaus gilt diese Persönlichkeitsstörung als nicht heilbar, es kann lediglich psychiatrisch-psychotherapeutisch eine Milderung der Symptomatik erreicht werden.

Das heisst in der Folge geht es vornehmlich um die Opfer narzisstischer Täter. Und hier kommt Achtsamkeit ins Spiel. Während der Psychoanalytiker Erich Fromm Narzissmus soziologisch konzeptuell als Gegenpol zu Liebe versteht (Die Kunst des Liebens, 1956), können, so mein Vorschlag, Achtsamkeit und Narzissmus pragmatisch als zwei Enden derselben Bewusstheits-Fahnenstange verstanden werden. Und das, was Narzissten gefährlich wie unnahbar macht, die Selbstverständlichkeit ihrer Hybris, muss mit dem Scheinwerfer ihres Gegenteils ausgeleuchtet werden, um sie von ihren Opfern zu isolieren.


Der Wert selbstverständlicher Achtsamkeit


So sind bereits verschiedene Reaktionen einender Achtsamkeit zu vernehmen – die ökonomische Isolation politischer Narzissmen, sowie das weltweite Zusammenstehen und sich Aussprechen für den Frieden. Letzteres eine alternativlose Selbstverständlichkeit möchte man meinen, doch vor dem Hintergrund ontologischer Strukturgestörtheit narzisstischer Protagonisten, und des unterschätzten Potenzials achtsamer Interventionen, des gigantomachischen Ungleichgewichts der Fahnenstange also, wird das Erlernen von Selbstverständlichkeit und Achtsamkeit im Verbund nötig.


Achtsamkeit ist hier nicht, wie im populären Selbstfürsorge Diskurs ein mit Vorliebe verwendeter Titel eines Wohlfühlworkshops zum effektiveren Stressmanagement. Achtsamkeit ist der notwendige, globalgesellschaftliche Strukturbegriff einer Haltung, die eine erlebte, positive Einheit von mir und sogenannten Anderen zum Ausdruck bringt. Der dadurch intrinsische Wert des Anderen gebietet zum Frieden. Umfassende humanitäre Hilfsprojekte für die Leidtragenden dieses politischen Narzissten bringen solch eine Haltung bereits seit Beginn dieses sinnlosen Krieges zum Ausdruck.


Selbstverständlichkeit als färbende Ingredienz einer achtsamen Haltung meint keine aktive, gar gewalttätige Vehemenz bezüglich ihrer Umsetzung. Das zutiefst menschliche Verständnis des je eigenen Selbst hingegen ist als sokratischer Appell die unbedingte Voraussetzung für jeden Frieden. Nur wenn der strukturontologische Zusammenhang von Selbst und Anderem jenseits kultureller Identität erfahren und in die eigene Persönlichkeitsstruktur integriert wird, kann dauerhafter Frieden gelingen.

Comentários


bottom of page